Rezension zu Scheller/Rohloff: Habitus und Geschmack in der Sozialen Arbeit
Gitta Scheller / Sigurður Rohloff (Hrsg.): Habitus und Geschmack in der Sozialen Arbeit. Ein Lehr- und Praxisbuch. Beltz Juventa (Weinheim, Basel) 2021. 279 Seiten. ISBN 978-3-7799-6318-9. D: 29,95 EUR. Hier geht es zum Buch.
Thema
Entstehungshintergrund
Die Soziale Arbeit ist, so scheint es, in Deutschland auf dem Weg eine zunehmend anerkanntere Profession und eine zunehmend anerkanntere Disziplin zu werden. Das hängt vielfältig auch mit Habitus und Geschmack, nicht zuletzt im Binnenkontext von spezifischen akademischen Habitus, zusammen. Forschung mit Hilfe des Habitusbegriffs von Bourdieu findet sich so auch im Zusammenhang mit der Professionalisierung der Fachkräfte der Sozialen Arbeit und der Frage, was einen spezifischen, professionellen Habitus in der Sozialen Arbeit ausmachen würde. Der vorliegende Sammelband beleuchtet darüber hinaus andere Perspektiven und bietet so einerseits einen Überblick zur Theorie - Forschung und Diskussion — und andererseits Vorschläge zur Praxis — Lehre und Berufspraxis.
Aufbau und Inhalt
Die Publikation ist in fünf Kapiteln aufgebaut. Dabei bietet das erste Kapitel „Einführung" eben genau dies: eine umfangreiche Einführung in das Themenfeld, den Forschungsstand und nicht zuletzt in das Buch. Die folgenden Kapitel beleuchten das große Feld von Habitus und Geschmack thematisch strukturiert anhand von jeweils zwei Beiträgen. Kapitel II trägt den Titel die „Zugänge zum Studium der Sozialen Arbeit und Passungen zur Fachkultur“, Kapitel III stellt im Titel die Frage nach der „Habitussensibilität als ‚neue‘ Professionalität?“ in der Sozialen Arbeit, Kapitel IV öffnet den Blick für Habitus und Geschmack in der sozialraumorientierten Sozialen Arbeit. Das Buch schließt mit Kapitel V und dem im Titel formulierten Blick auf „Geschmackliche Vorlieben von Sozialarbeiter*innen“ mit der Frage nach deren Bedeutung für die Berufspraxis. Alle Beiträge können für sich stehen und bieten neben dem Quellenverzeichnis auch jeweils angepasste Leitfragen. Diese können unmittelbar in der Lehre eingesetzt werden und können ebenso im Rahmen der individuellen Lektüre einem erweiterten Textverständnis dienlich sein.
In der 22 Textseiten umfassenden Einführung wird den Lesenden, nach einer kurzen Einführung in die Konzepte Habitus und Geschmack, ein guter Überblick bezüglich des Standes der entsprechenden Forschung im Bereich der Sozialen Arbeit gegeben. Darüberhinaus werden in der Einführung die Beiträge des Sammelbandes zusammenfassend vorgestellt.
Kapitel II behandelt die „Zugänge zum Studium der Sozialen Arbeit und Passungen zur Fachkultur“ anhand der zwei Fragen „Welche Habitus und milieuspezifischen Zugänge führen in die Soziale Arbeit“ (S. 27) und „In welchem Zusammenhang stehen Gesellschaftsbilder mit Bildungsstrategien von Studienabbrecher*innen und Studienzweiflenden?“ (S. 28). Der erste Beitrag dieses Kapitels geht dabei konkret der Frage nach, inwiefern Geschlecht, Milieu und Habitus Einfluss auf den Zugang zum Studium der Sozialen Arbeit nehmen. Es zeigen sich Hinweise auf einerseits milieuspezifische Zugänge und andererseits schließt das milieu-übergreifende Merkmale nicht aus. Auch die zweite Frage des Kapitels betrachtet die Studierenden bzw. hier diejenigen, die das Studium abgebrochen haben. Es zeigt sich, dass auch bei der untersuchten Zielgruppe die jeweiligen Bilder von Gesellschaft und die Bildungsstrategien miteinander in Wechselwirkung stehen und durch individuelle, biografische Prozesse gebildet werden. Der Blick wird dann auf die Bedeutung dieser Gesellschaftsbilder für den Studienabbruch gelenkt, auch um Vorschläge daraus abzuleiten, wie die Zahl der Studienabbrüche verringert werden kann.
Kapitel III stellt die Frage nach der „Habitussensibilität als ‚neue‘ Professionalität?“ in der Sozialen Arbeit. Der erste Beitrag behandelt einerseits den Einfluss des individuellen Habitus auf die Professionalität der in der Sozialen Arbeit tätigen Menschen und anderseits inwieweit die Analyse des Habitus zur Professionalität in der Sozialen Arbeit beiträgt. Daran knüpft der zweite Beitrag des Kapitels an. In diesem wird den Fragen nachgegangen inwiefern Habitussensibilität gelingen kann und welche Rolle eine solche Habitussensibiltät als Kompetenz in Bezug auf die Selbstreflexion spielen kann und sollte.
Kapitel IV fokussiert auf Habitus und Geschmack in der sozialraumorientierten Sozialen Arbeit. Der erste Beitrag widmet sich konkret anhand von zwei Wohngebieten in Köln dem Thema der Wahrnehmung der eigenen Wohngegend und der Spiegelung sozialer Ungleichheit in eben diesen Wahrnehmungen und den darin erkennbaren Wahrnehmungsmustern. Daran schließt der zweite Beitrag dieses Kapitels an, der pragmatisch die Frage stellt, welche Wirkungen eine Soziale Arbeit entfaltet, die sozialraumorientiert vorgeht und dabei Habitus und Geschmack aufgreift.
Das Buch schliesst mit Kapitel V und dem darin auf „Geschmackliche Vorlieben von Sozialarbeiter*innen“ gerichteten Blick. Auch hier ist die der Frage nach deren Bedeutung für die Berufspraxis diejenige Perspektive, die ausschlaggebend ist. Im ersten Beitrag steht die Bestandsaufnahme im Mittelpunkt. Die behandelte Frage ist hier die nach den Präferenzsystemen von Geschmack: Der geweitete Blick ist auf den sozialen Sektor gerichtet. Der zweite Beitrag des Kapitels schliesst das Buch ab. Hier wird versucht die Geschmackspräferenzen speziell bei Sozialarbeiter*innen zu identifizieren; dies auch mit dem Ziel der Frage nachzugehen, gegen wen sich die Distinktion von Sozialarbeiter*innen richtet.
Diskussion
Die große Stärke der Publikation ist sicher der Aufbau mit Blick auf die Lehre in der Sozialen Arbeit. Die Texte sind für ein deutschsprachiges Fachbuch vergleichsweise einfach zugänglich. Auch können die einzelnen Beiträge durchaus für sich selber stehen. Nicht zu letzt auch bedingt durch die in den meisten Beiträgen vorhandenen einleitenden Absätze, die sowohl Habitus als auch Methodik erläutern. Dies ist bei der Lektüre des gesamten Buches zwar in gewisser Weise redundant, bietet aber auch Leser*innen, die bereits umfassendes Fachwissen in Bezug auf Bourdieus Theorien haben, eine schöne Wiederholung. Dass jeder Beitrag auch mit Leitfragen zu den jeweiligen Texten schließt, ist ein Mehrwert vor allem für die Lehre.
Die Einleitung führt gut in das Buch ein und beschreibt nicht nur die Beiträge, sondern auch das Konzept und die Idee der Publikation. Auch die Einleitung kann für sich stehen und macht nicht nur neugierig auf die Beiträge, sondern bietet darüber hinaus eine gute Einführung in den großen Themenkomplex.
Im ersten Kapitel nach der Einleitung zeigt sich bereits deutlich, wie groß die Forschungslücken in Bezug auf Habitus und Geschmack in der Sozialen Arbeit sind. Die sehr spannende Frage nach den spezifischen Zugängen zum Studium der Sozialen Arbeit werden hier exemplarisch anhand qualitativer Interviews behandelt. In den hier vorgestellten drei Interviews offenbart sich eine vielfältige Sicht auf die Bedeutung und Rolle der Sozialen Arbeit. Da hier jedoch schon deutlich wird, dass es Hinweise auf milieuspezifische Einflüsse auf den Zugang zum Studium der Sozialen Arbeit gibt, zeigt sich auch, dass diese spannende Forschungsfrage von einer breiteren Datenbasis profitieren würde. Dies kann aber durchaus als eine Stärke gesehen werden, denn Studierende können so für weitere Forschung, vielleicht im Rahmen von Abschlussarbeiten, Inspiration finden und dafür begeistert werden. Die Perspektive auf diejenigen, die das Studium abbrechen, welche im nächsten Beitrag eingenommen wird, kann auch Lehrende durchaus dafür begeistern habitus- und milieusensibel die eigene Praxis der Lehre zu gestalten und den Studierenden dadurch vielfältige Zugänge zu einem Studium anzubieten. Im besten Falle handeln Lehrende auch sensibilisiert für das »Arbeiterkindsyndrom« und reflektieren den eigenen Habitus als Dozent*innen diesbezüglich. So zeigt bereits die Lektüre dieses Kapitels sehr gut eine weitere Stärke des Buches auf: ein Angebot der (Selbst)Reflexion für Lehrende und Studierende um die eigene berufliche Praxis zu verbessern.
Dieser Aspekt wird im folgenden Kapitel noch einmal betont, denn hier wird genau diese Frage explizit behandelt. Auch wird die konsequente Praxisorientierung als eine Stärke des Buchs deutlich — ungeachtet der damit einhergehenden Schwäche ein überwiegend theoretisch interessiertes und fachlich exzellent gebildetes Publikum möglicherweise nicht zufriedenstellend anzusprechen. Jedoch hilft eine selbstbezügliche Bildung in Bezug auf den/die eigenen Habitus auch den Fachleuten immens, die vielleicht allzu sehr gefährdet sein mögen Wissen und nicht Bildung zu produzieren. Denn im ersten Beitrag wird konkret beschrieben, wie die Theorie — Bourdieus Habituskonzept — in der Praxis, also der Sozialen Arbeit, angewendet werden kann. Daran schließt wiederum der zweite Beitrag an. Hier wird ein Spannungsfeld beleuchtet, welches entscheidend für eine professionelle Soziale Arbeit sein kann: die Reflexionskompetenz. Hier gelingt eine sehr schöne Verbindung von Lebensweltorientierung, machtsensibler Beratung und Milieuforschung mit der Habitusforschung.
Besonders interessant ist der erste Beitrag des Kapitel IV, da hier sehr konkret der physische Raum betrachtet wird. Sicher spielt eine Rolle, dass der Rezensent in Köln geboren wurde und das Thema anhand zweier Kölner Stadtviertel untersucht wird. Aber auch wer keinen persönlichen Bezug zu Köln hat, wird den Beitrag fruchtbringend lesen. Hier wird sehr deutlich wie wichtig insbesondere negative Wahrnehmungen der Eigenschaften der Wohngebiete für die Wahrnehmung derselben sind. Besonders relevant scheint hier die noch wenig verbreitete Erkenntnis, dass sich der Soziale Raum auch im physischen Raum abbildet. Auch hier macht der Beitrag Lust auf weitere Forschung in diesem durchaus spannenden Feld. Der folgende Beitrag ergänzt und erweitert dies gut. Dass ausdrücklich auf die vorangestellte Forschung in Köln rekurriert wird, lädt dazu ein beide Texte aufeinander aufbauend in der Lehre zu verwenden. Im zweiten Beitrag wird der deskriptive Aspekt um einen ethischen Aspekt ergänzt, was darüber hinaus auch ermöglicht wissenschaftstheoretische Überlegungen und Diskussionen anzuregen. So kann gezeigt werden, dass die Trennschärfe zwischen deskriptiven, interpretativen und normativen Perspektiven nicht nur fruchtbar für Theorie und Praxis ist, sondern auch hilfreich ist in Bezug auf die persönlichen Kompetenzen von — in diesem Fall — in der Sozialen Arbeit und Lehre tätigen Menschen.
Das nächste Kapitel startet mit einem Beitrag, der die hohe Qualität des Buchs fortsetzt. Hier startet der Autor mit einem gelungenen, kurzen Überblick was Geschmack ist und welche (akademischen) Positionen zu finden sind. Die Untersuchung der geschmacklichen Präferenzen von Sozialarbeiter*innen bezieht sich dann auf unterschiedliche Aspekte wie z.B. Hobbys, Kleidung, Musik etc., wobei laut des Autors besonders derjenige Geschmack, welcher sich auf Kunst und Kreativität richtet, fruchtbar für die Praxis der Sozialen Arbeit gemacht werden sollte.
Das Buch schließt sodann mit dem, so muss hier direkt erwähnt werden, deutlich schwächsten Beitrag — auf diese Wertung folgt nun ein deutliches »Aber«. Denn einerseits können unwissenschaftliche und wertende Formulierungen wie z.B. „Selbstsicher schwadroniert dagegen ein jüngerer Sozialarbeiter […]“ (S. 241) auch auf eine mangelnde Reflexion des eigenen Habitus der Autorin hindeuten, andererseits bietet dies ein exzellentes Beispiel, wieso die Reflexion, nicht zuletzt des eigenen Habitus, auch in der Forschung und vor allem in der Lehre wichtig sind; denn dadurch lassen sich derart unwissenschaftliche Formulierungen vermeiden. Auf implizite Aussagen, wie solchen, dass legitimer Geschmack mit Empathiefähigkeit zusammenhängen würde (S. 270), hätte die Autorin dann vermutlich auch verzichtet.
Fazit
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die Publikation eine sehr lesenswerte Anschaffung und vor allem Lektüre ist, aus vielerlei Gründen. So zum Beispiel aus der Perspektive von außen auf »die« Soziale Arbeit. Denn die uneinheitliche Verwendung von Fachbegriffen, unter anderem um die Adressat*innen der Sozialen Arbeit zu bezeichnen, kann so gedeutet werden, dass auch fachintern die Soziale Arbeit nach wie vor auf dem Weg ist eine Disziplin zu werden.
Beispielsweise wird von Klient*innen sogar von Klientel geschrieben. Das Buch kann dabei aber helfen, die Soziale Arbeit weiter zu »disziplinarisieren«, also zu einem Erkenntnissystem mit den Kriterien Wahrheit und Richtigkeit zu machen. Jedoch richtet sich das Buch eben nicht nur an den Aspekt der Disziplin, sondern auch an den Aspekt der Profession (Praxissystem mit dem Kriterium Wirksamkeit) und so ist das Buch auch aus der Binnenperspektive spannend. In diesem, so ließe sich sagen, »Spannungsfeld« der Sozialen Arbeit insgesamt bewegt sich auch der Sammelband und trägt zu beidem, der »Professionalisierung« wie auch der »Disziplinarisierung« bei. Vor allem auf Grund des hohen Praxisbezugs für die Lehre und die Berufspraxis, aber auch für weitergehende Forschung innerhalb der Sozialen Arbeit, wie auch über die Soziale Arbeit ist diese Publikation eine sehr empfehlenswerte Lektüre.
Nicht zuletzt die für ein deutschsprachiges Fachbuch vergleichsweise leicht zugänglichen Texte lassen es für Fachhochschulen und die Lehre in einem Dualen Studium hervorragend geeignet scheinen. Doch auch wer universitäre Lehre kennt, prinzipiell auch schwerer zugängliche Texte schätzt und Bourdieus Werk als Primärliteratur genießt, wird zweifellos Freude an der Lektüre haben. Besonders gelungen wirken dabei die zahlreichen Fährten für Lehrende, Studierende und Fachkräfte die eigene Praxis und den eigenen Habitus kritisch-rational selbstreflexiv zu erschließen und so neue Handlungsfreiräume zu schaffen.