Rezension zu Özmen: Was ist Liberalismus?
Özmen, Elif (2023): Was ist Liberalismus?. Suhrkamp (Frankfurt am Main). 208 Seiten. ISBN 978-3-518-30005-3. D: 18,00 EUR. Hier geht es zum Buch.
Thema
Autorin
Elif Özmen ist eine Expertin für politische Philosophie und hat sich als Professorin für Praktische Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen mit Fragen der Ethik, Sozialphilosophie und politischen Theorie einen Namen gemacht. Ihre Forschung legt großen Wert auf die Verbindung von klassischen philosophischen Themen mit aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen. Özmens fundiertes Verständnis des Liberalismus und ihre respektvolle, offene Auseinandersetzung mit dessen Kritiker*innen spiegeln sich wider in dem rezensierten Werk, das sich mit der Krise und den Potenzialen des Liberalismus befasst.
Entstehungshintergrund
Özmens Buch entstand in einer Zeit, in der der Liberalismus unter Beschuss steht und seine Relevanz und Legitimität oft infrage gestellt werden. Die politischen Verhältnisse in Deutschland und darüber hinaus haben den Liberalismus zu einem umkämpften Begriff gemacht. Vor diesem Hintergrund ist Özmens Werk als ein Plädoyer für die Reflexion und die Bewährung der liberalen Werte zu verstehen. Indem sie den Liberalismus in seiner Vielfalt und seinen inneren Widersprüchen untersucht, tritt sie gleichzeitig für die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Selbstüberprüfung ein.
Aufbau und Inhalt
Özmen strukturiert ihr Werk durch einen historischen und systematischen Zugang, indem sie die Geschichte des Liberalismus nachzeichnet und zentrale Denker*innen miteinander vergleicht. Sie zeigt verschiedene „Ähnlichkeitspaare“ auf – beispielsweise Hobbes und Kant, Mill und Marx, oder auch Hobbes, Mill und Popper – und demonstriert, wie jede*r diese*r Denker*innen zur Einschränkung staatlicher Macht und zur Sicherung individueller Freiheit beiträgt. Diese Vergleiche erfrischen den Diskurs, indem sie statt dogmatischer Definitionen lebendige Verbindungen schaffen, die die Leser*innen zum Nachdenken anregen.
Das Buch ist in fünf Kapitel gegliedert, die sich jeweils einem Aspekt des Liberalismus widmen. Im ersten Kapitel „Gespensterdämmerung“ werden Erfolgsgeschichte und Krisendiagnose thematisiert. Kapitel 2 widmet sich dem „Trio liberale“, Kapitel 3 der normativen Architektur des Liberalismus. Dies führt in das vierte Kapitel „Konfliktszenarien“. Özmen schließt mir dem Fazit (Kapitel 5) „Im Zweifel für den Liberalismus“. Ein zentrales Thema des Buchs ist ist die Frage nach dem theoretischen Fundament des Liberalismus und wie er sich von anderen politischen Ideologien unterscheidet. Özmen untersucht dabei die zentralen philosophischen Annahmen und bringt neue Perspektiven ein, indem sie Richard Rortys postmetaphysischen Liberalismus einführt. Ein prägnantes Zitat beschreibt, dass das einzige soziale Band zwischen den Bürger*innen die „uns Menschen gemeinsame Verletzbarkeit durch Schmerz und Demütigung“ ist (S. 164/165). Hiermit veranschaulicht Özmen, dass der Liberalismus sich auf Empathie und Solidarität gründet, ohne eine absolute Wahrheit zu beanspruchen. Die liberale „Ironie“, wie Rorty sie beschreibt, bedeutet, dass politisches und soziales Engagement stets „von hier aus“ erfolgt – also ohne den Anspruch auf ein übergeordnetes, allumfassendes Wahrheitsfundament.
Ebenso beleuchtet Özmen die Problematik des Relativismus, wie sie unter anderem von Simon Blackburn thematisiert wird. Sie stellt fest, dass ein radikaler Relativismus letztlich in einer Entmenschlichung münden kann, weil er die individuellen Überzeugungen und Meinungen der Menschen nicht wirklich ernst nimmt. Der Liberalismus hingegen ist, so Özmen, darauf angewiesen, die Meinungen und Interessen der Individuen in ihrem Eigenwert zu respektieren und eine engagierte Diskussion zu ermöglichen (S. 185).
Diskussion
Das Buch ist geleitet von „der These der normativen Attraktivität der liberalen Demokratie“ (S. 14), was die Lektüre entsprechend positiv leitet. Özmens Werk ist nicht nur eine Definition des Liberalismus, sondern auch eine Reflexion über dessen Potenziale und Herausforderungen in der modernen Gesellschaft. Besonders gelungen ist ihr Ansatz, den Liberalismus nicht als starre Ideologie, sondern als dynamische Praxis darzustellen, die sich durch Selbstkritik und Anpassung an gesellschaftliche Realitäten bewähren muss. Hier wird Özmen selbst zu einer liberalen Denkerin: Sie legt kein Dogma vor, sondern lädt zur kritischen Diskussion ein. Ihre Analyse wird ergänzt durch einen „eindringlichen Aufruf“, den Liberalismus als eine universelle Lebensform für alle vernunftbegabten Menschen zu verstehen. Dieser Ansatz steht in Kontrast zu anderen Werken, die den Liberalismus eher als festgelegte Ideologie oder als reines philosophisches Konstrukt darstellen.
Özmen betont stark die philosophische und ideengeschichtliche Seite des Liberalismus und fokussiert dabei weniger auf die praktische Umsetzung und die aktuellen politischen Herausforderungen. Dieser Fokus auf die philosophische Theorie des Liberalismus könnte dazu führen, dass der Text auf Leser*innen, die sich eher für praktische Lösungsideen für politische und soziale Aspekte interessieren, weniger zugänglich oder relevant wirkt. Für eher theoretisch interessierte Leser*innen mag die historische Herleitung zu Beginn des Buchs nicht umfangreich genug sein. Auch lässt sich kritisch anmerken, dass der Aspekt negativer Freiheit stärker betont wird, als der Aspekt positiver Freiheit. Vielleicht erscheint auf den ersten Blick auch ein Widerspruch zwischen diesen Freiheiten und die Positionen von Berlin sowie Hayek und Rawls könnten unvereinbar wirken. Doch Özmen macht deutlich, dass es zwar Spannungen zwischen Freiheit und Gleichheit gibt (S. 85), dass diese aber in der juristischen und politischen, in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder auszuhandeln sei.
Özmen zeigt sich dabei offen gegenüber den Kritiken am Liberalismus und verdeutlicht, dass der Liberalismus sich nur dann bewähren kann, wenn er bereit ist, sich selbst zu hinterfragen und an den realen Bedingungen der Gesellschaft zu messen. Besonders ihre Ausführungen zur Toleranz und zur Rolle der Wahrheit im liberalen Denken sind lesenswert. Sie macht klar, dass ein reiner Toleranzbegriff, der keine Diskussion über die Gründe hinter Überzeugungen zulässt, zur Entfremdung führen kann. An dieser Stelle knüpft Özmen an die Arbeiten von Rorty und Blackburn an und bietet eine differenzierte Perspektive, die sowohl die Vorzüge als auch die Gefahren des Relativismus thematisiert.
Fazit
Elif Özmen ist mit Was ist Liberalismus? ein gelungener Beitrag zur aktuellen Debatte um die Grundlagen und die Zukunft des Liberalismus gelungen. Ihre gelehrte und zugleich zugängliche Darstellung eröffnet einen umfassenden Einblick in die ideengeschichtlichen Ursprünge und Entwicklungen des Liberalismus und zeigt auf, wie er heute als ethisches und politisches Modell relevant bleiben kann. Das Buch ist nicht nur eine philosophische Analyse, sondern auch ein leidenschaftliches Plädoyer für die kontinuierliche Selbstüberprüfung des Liberalismus anhand der Wirklichkeit. Özmen selbst verkörpert in ihrer respektvollen und offenen Art die liberalen Tugenden, die sie beschreibt. Wer nach einer differenzierten Einführung in den Liberalismus sucht und zugleich die großen Fragen unserer Zeit – wie die Bedeutung von Empathie, Solidarität und Toleranz – reflektieren möchte, findet in Özmens Buch eine wertvolle Lektüre.
Özmen plädiert überzeugend dafür, den Liberalismus nicht als starres Konzept zu betrachten, sondern als eine lebendige Praxis, die sich stetig an wechselnden sozialen und politischen Gegebenheiten messen und neu bewähren muss. Diese Sichtweise bietet eine starke, selbstkritische und zukunftsorientierte Antwort auf die Frage, was Liberalismus ist und sein kann – und schafft Raum für Optimismus. Wer in dem Buch aber nach konkreten Praxistipps für gesellschaftspolitisches Engagement sucht, wird hier nicht fündig, wohl aber eine „Landkarte der Philosophie de[s] Liberalismus“ (S. 11), die zur Reflexion und Vertiefung einlädt. Die Leser*innen sind selbst gefordert, die gewonnenen Erkenntnisse im Alltag und in der Politik zu verankern. Denn ein Liberalismus, der die ganze Gesellschaft einbezieht, kann nur dann verwirklicht werden, wenn wir die Einsichten dieses Buches in eine inklusive und gelebte Praxis umsetzen, über ein augenscheinlich akademisch interessiertes Publikum hinaus.