Rezension zu Fuchs: Liebe, Sex und solche Sachen
Fuchs, Peter (1999): Liebe, Sex und solche Sachen: Zur Konstruktion moderner Intimsysteme. UVK (Jetzt: Herbert von Halem Verlag). 124 Seiten. ISBN 3-87940-663-4. D: 14,90 EUR. Hier geht es zum Buch.
Thema
Autor
Peter Fuchs (*17. Mai 1949) ist ein deutscher Soziologe, der von 1992 bis 2007 als Professor für Allgemeine Soziologie und für Soziologie der Behinderung an der Hochschule Neubrandenburg tätig war. Nach einer Laufbahn als Heilerziehungspfleger studierte er Sozialwissenschaften und Soziologie an verschiedenen Universitäten und promovierte 1991 an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Fuchs' theoretische Arbeit ist stark von Luhmanns Systemtheorie geprägt und konzentriert sich auf die Funktionsweise sozialer Systeme. Er gründete zudem ein Institut für Allgemeine Theorie der Sinnsysteme.
Entstehungshintergrund
Das Buch Liebe, Sex und solche Sachen: Zur Konstruktion moderner Intimsysteme basiert auf einer Vorlesungsreihe und einem Kolloquium, die Peter Fuchs hielt und anschließend überarbeitete und veröffentlichte. 1999 erschien es schließlich als Buch und bringt die Gedanken und Diskurse aus diesen akademischen Veranstaltungen zusammen. Der Rahmen der Vorlesung ermöglicht es Fuchs, die komplexen Themen der Liebe und Intimität in einem freien und experimentellen Stil zu entfalten, der auf Interaktion und Reflexion ausgelegt ist. Durch den Bezug auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns und die Einbettung in soziologische Grundfragen entstand eine facettenreiche Untersuchung über moderne Intimsysteme, die die Dynamiken und Herausforderungen moderner Liebesbeziehungen beleuchtet und kritisch hinterfragt. Das Kolloquium ermöglichte es ihm, zusätzliche Perspektiven und Fragen in die Arbeit einzubringen, die das Buch bereichern und das Thema aus verschiedenen theoretischen Blickwinkeln erhellen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch Liebe, Sex und solche Sachen: Zur Konstruktion moderner Intimsysteme gliedert sich in eine Vorbemerkung, vierzehn Vorlesungen und ein Abschlusskolloquium. Der Aufbau folgt der Struktur einer universitären Vorlesungsreihe, bei der zu Beginn jeder Sitzung Fragen und Anmerkungen der Studierenden aufgegriffen werden. Diese interaktive Methode ermöglicht Fuchs, seine theoretischen Ausführungen flexibel an die Fragen und Interessen der Zuhörer*innen anzupassen und auf kritische Rückfragen einzugehen. Die einzelnen Vorlesungen bieten eine systematische Erkundung der Themen Liebe, Intimität und gesellschaftliche Konstruktionen moderner Intimsysteme. Abschließend reflektiert das Kolloquium die wichtigsten Erkenntnisse und stellt einen Raum für tiefergehende Diskussionen bereit.
Peter Fuchs analysiert die moderne Liebe und Intimsysteme aus systemtheoretischer Perspektive, ohne eine festgelegte Definition von Liebe zu liefern. Stattdessen zeigt er auf, wie die Konzepte von Liebe, Sexualität und Intimität durch die soziale Konstruktion geprägt sind und sich in sozialen Systemen manifestieren. Er untersucht also mit den wissenschaftlichen Mitteln der Soziologie die „Besondere Sozialform […] der Intimität“ (S. 20). Für den Soziologen Fuchs ist Liebe kein festes Konstrukt, sondern eine Vielzahl von „Unterscheidungen, die gerade dies nicht sind: Identitäten“ (S. 12). In der Moderne, so stellt er fest, sei es unmöglich zu sagen, „was die Liebe ist“, da sie nicht ohne Differenz und historische Variation gedacht werden kann (S. 13). Denn es gibt keine essentielle oder ontologische Definition von Liebe. Stattdessen ist Liebe als ein soziales Konstrukt keine unveränderliche Substanz.
Fuchs unterscheidet zwischen psychischen und sozialen Systemen. Während das psychische System auf Gedanken und Empfindungen basiert und somit subjektives Erleben ermöglicht, ist das soziale System ein Netzwerk von Kommunikationen, das „gerade nicht ein erlebendes System“ ist, sondern ein extrem komplexes Konstrukt, das das Erleben übersteigt (S. 14). Diese Differenz zieht sich als zentrales Thema durch das gesamte Werk und beleuchtet, wie Liebe in beiden Systemen verschiedene Bedeutungen annimmt. Erkenntnisse, die aus dieser Differenzierung folgen, können kontraintuitiv zum Alltagswissen wirken. So ist zum Beispiel der Glaube, dass Sexualität und Liebe etwas miteinander zu hätten weit verbreitet. Doch Fuchs stellt nochmal heraus, dass „das Begehren der Individuen und die Körper […] keine Bestandteile des Intimsystems“ sind (S. 45). Die Irritation, die aus dieser Feststellung folgen kann, erklärt sich unter anderem durch die „Vorschrift einer sexuellen Mythologie“ (S. 47).
Eine besondere Rolle in der Analyse von Fuchs spielt die Frage nach der sozialen Konstruktion der Liebe und der damit verbundenen Erwartungen. Für Fuchs sind Liebende in modernen Intimsystemen durch die Vorstellung geprägt, dass die Beziehungsperson in der Gesamtheit zu akzeptieren ist – was auch das Akzeptieren von Unvollkommenheiten und Eigenheiten (Idiosynkrasien) einschließt (S. 28). Dieses „Ganz oder gar nicht“-Prinzip verleiht dem Intimsystem eine enorme emotionale Komplexität und macht es oft „fundamental schwierig“ oder sogar „unmöglich“ (S. 30f.). Er beschreibt Liebe als ein System, das oft durch den Anspruch geprägt ist, alles sagen zu dürfen, ohne dass dies tatsächlich immer praktikabel wäre. Konflikte und Missverständnisse seien in Intimsystemen deshalb unvermeidbar und Teil der „prekäre[n] Kommunikation“ (S. 30). Intimsysteme (z.B. romantische Beziehungen) sind dabei kommunikative Systeme, deren Ziel weniger die Inhalte der Kommunikation ist, als das „Wie“ der Mitteilung, wobei sich oft unausgesprochene Regeln und Tabus entwickeln.
Ein weiterer Aspekt, den Fuchs untersucht, ist die Verbindung zwischen Intimität und Mythologien. Die gemeinsame Liebesgeschichte fungiert als „Nebencode“, der den Wert und die Identität des Intimsystems stabilisiert und zugleich als „Mythologie“ fungiert, die fortlaufend umgedeutet werden kann (S. 63). Dadurch wird die Vergangenheit in die Gegenwart des Systems integriert, was den romantischen Beziehungen zusätzliche Stabilität, aber auch Ambivalenz verleiht. Das Konzept der Liebe ist also kein natürlicher Zustand, sondern wird durch soziale Unterscheidungen geprägt und vermittelt. Menschen lernen, was Liebe ist und wie sie sich anfühlt, durch soziale Erfahrungen und kulturelle Vorgaben, nicht durch eine universelle Wahrheit. Die romantische Liebe wird verstanden als „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“ (S. 52), das durch Mythen und Geschichten geprägt wird. Und als Intimsystem, dass „darauf angewiesen ist, daß die Denkvoraussetzungen und die Wahrnehmungen des Bewusstseins ignoriert werden“. (S. 74f.).
Aus dem Intimsystem konventioneller romantischer Lieber von zwei gegengeschlechtlichen Personen folgt der kulturelle Anspruch in ein anderes soziales Konstrukt überzugehen, in die Familie. Fuchs stellt nun dar, „Daß die Familie als Erbin des Intimsystems auftritt, also als ein Sozialsystem, daß die Operation des Liebens beibehält, aber damit die quantitative Bestimmtheit der Formvorschrift (ZWEI) aufgibt.“ (S. 85). Dies führt dazu, dass Familie in der heutzutage dominanten Form des Narratives der «Kernfamilie» zum Einen dazu führte, dass Kinder erst mit Aufkommen der romantischen Liebe als solche „entdeckt wurden“. Zum Andern führte es dazu, dass „Kinder erst unter die Operation des Liebens fallen in dem Moment, in dem sie selbst Adressen des erweiterten Intimsystems, also der Familie werden.“ (S. 87).
Fuchs stellt abschließend fest, dass moderne Intimsysteme nicht darauf ausgelegt sind, eine „wahre“ Natur der Liebe zu ergründen. Vielmehr geht es um die Funktionsweise der Liebe und ihre soziale Konstruktion. Er argumentiert, dass die moderne Gesellschaft uns zwingt, „wenigstens einmal in dieser Form geliebt“ (S. 54) zu haben, wodurch ein sozialer Anspruch auf romantische Liebe entsteht. Selbst wenn Menschen dies bewusst ablehnen, bleibt der kulturelle Druck ebenso bestehen, wie die unbewusste Prägung. Das Abschlusskolloquium bietet Raum für Fragen, die die Vorlesungen aufgeworfen haben, und ermöglicht es, die Kernaussagen noch einmal zu reflektieren und gegebenenfalls wertzuschätzen, „daß Sie ja an Komplexität gewinnen, was Sie an Naivität verlieren.“ (S. 57).
Diskussion
Liebe, Sex und solche Sachen: Zur Konstruktion moderner Intimsysteme bietet eine tiefgründige und analytische Perspektive auf das Phänomen der Liebe und Intimität, die sich auf die soziologische Systemtheorie stützt. Fuchs schafft es, komplexe systemtheoretische Konzepte auf ein so alltägliches, aber zugleich vermeintlich rätselhaftes Thema wie die Liebe anzuwenden und neue Denkanstöße zu liefern. Durch die Trennung von psychischen und sozialen Systemen zeigt er, dass Liebe nicht nur als individuelles Erleben verstanden werden kann, sondern auch als ein soziales Phänomen, das durch gesellschaftliche und kommunikative Prozesse konstruiert wird.
Eine der besonders wertvollen Einsichten des Buches ist Fuchs' Darstellung der modernen Liebe als soziales Experiment, das auf den „Verlust der EINS“ reagiert (S. 24). Die Forderung, den Anderen in seiner Gesamtheit – inklusive all seiner „Idiosynkrasien“ – zu akzeptieren, hebt die hohe Komplexität und gleichzeitig die fragile Natur moderner Intimsysteme hervor. Fuchs beschreibt diese Systeme als „fundamental schwierig“ und „unmöglich“ (S. 30f.), was ihre Krisenanfälligkeit zu einem zentralen Merkmal macht. Diese Sichtweise bringt eine realistische und oft vernachlässigte Dimension in die Diskussion um romantische Beziehungen und stellt sich kritisch gegen idealisierte Vorstellungen von Liebe. Denn romantische Beziehungen fordern kommunikative Transparenz und Ehrlichkeit, aber paradoxerweise auch eine gewisse Zurückhaltung, um die Beziehung nicht zu überfordern. Liebe ist daher oft ignorant gegenüber der vollständigen Offenheit und authentischen Kommunikation, die moderne Gesellschaften propagieren (vgl. S. 74f.).
Das Buch punktet auch durch seine kritische Reflexion der Rolle von kulturellen Mythen und sozialen Erwartungen. Fuchs’ Konzept der „strukturellen Ignoranz“ (S. 74) beschreibt, wie Intimsysteme notwendigerweise selektiv mit Informationen umgehen, um Stabilität zu bewahren. Diese Darstellung zeigt eine scharfsinnige Analyse der inneren Mechanismen von Liebesbeziehungen und bietet eine Erklärung für die häufige Diskrepanz zwischen idealisierten und tatsächlichen Erfahrungen. Hier werden auch zwei konkurrierende Weltanschauungen deutlich: „aufklärerische Paradigma […], das sich vom romantischen Paradigma scharf unterscheidet.“ (S. 111f.). Denn das Eine verpflichtet zu offener Kommunikation über Alles, während das Zweite zum selektiven Verschweigen verpflichtet.
Ein weiterer Aspekt, den Fuchs beleuchtet, ist die Rolle der Familie als erweiterte Form des Intimsystems. Hier zeigt er, wie die Familie durch die Einführung der „obligatorischen Liebe“ geprägt ist – einer normativen Erwartung von Zuwendung und Nähe, die sich auch dann entfaltet, wenn „psychisch nicht den mindesten Grund zur Liebe“ besteht (S. 91). Diese Pflicht zur Liebe bringt ein Spannungsfeld mit sich, da sie einerseits Stabilität bietet, andererseits aber auch Belastungen und emotionale Konflikte erzeugen kann. Die Familie fungiert als Lösung für die doppelte Kontingenz sozialer Beziehungen, birgt jedoch zugleich das Risiko von Überforderung: „Das System ist krank und wirft dann das Leid von Individuen aus“ (S. 109). Fuchs gelingt es, die Ambivalenz der Familie als eine Einheit von Problem und Lösung eindringlich darzustellen und damit ihre Rolle in der Konstruktion moderner Intimsysteme zu verdeutlichen.
Einige Leser*innen könnten den distanzierten und analytischen Stil als herausfordernd empfinden, insbesondere wenn sie eine romantisierende oder vereinfachende Sichtweise auf die Liebe bevorzugen. Fuchs fordert die Leser*innen jedoch dazu auf, Liebe als ein Kommunikationsmedium zu verstehen, das durch spezifische soziale und kulturelle Codes strukturiert wird. Diese nüchterne, fast technische Sichtweise mag ungewohnt erscheinen, eröffnet jedoch tiefgehende Erkenntnisse über die Konstruktion moderner Intimsysteme und bietet somit wiederum zahlreiche Freiheitsspielräume, die sowohl individuell als auch strukturellen fruchtbar gemacht werden können.
Fazit
Peter Fuchs’ Liebe, Sex und solche Sachen ist eine erkenntnisreiche Untersuchung der modernen Liebe aus systemtheoretischer Sicht. Das Buch liefert eine fundierte Analyse, die Liebe und Intimität nicht als fixe „Dinge“ betrachtet, sondern als dynamische, kommunikativ konstruierte Phänomene. Fuchs bietet eine nüchterne, aber tiefgehende Analyse der sozialen und kulturellen Mechanismen, die moderne Intimsysteme prägen, und beleuchtet die Krisenanfälligkeit und strukturelle Komplexität romantischer Beziehungen. Dei Fragen der Studierenden, die zu Anfang jeder Vorlesung aufgegriffen werden, sind eine weitere Stärke des Buchs.
Letztlich kommt er zu dem Schluss, dass die Liebe kein fest definiertes Ding ist, sondern eine durch Kommunikation und soziale Rahmenbedingungen geformte Praxis. Romantische Liebe als Intimsystem ist kein messbarer Zustand, sondern ein Konzept, das durch gesellschaftliche Zuschreibungen und persönliche Erfahrungen lebt und sich ständig verändert. Insgesamt zeigt Fuchs auf, dass Liebe weniger eine individuelle Erfahrung als vielmehr ein komplexes, sozial konstruiertes Phänomen ist, das von den Kommunikationsstrukturen und kulturellen Rahmenbedingungen der Gesellschaft abhängt.
Für Leser*innen, die bereit sind, Liebe aus einer vermeintlich ‚unromantischen‘, analytischen Perspektive zu betrachten, bietet dieses Werk wertvolle Einsichten und Denkanstöße. Liebe, Sex und solche Sachen ist ein spannender Beitrag zur Soziologie der Intimität und eignet sich besonders für Leser*innen mit Interesse an systemtheoretischen und soziologischen Ansätzen. Abschließend Peter Fuchs: "Es gibt, glaube ich, wirklich keine ernsthafte Antwort auf die Frage: Was ist Liebe? Eher auf die Frage: Wie funktioniert und wie fungiert Liebe? Warum muss man das wissen? […] Sie studieren, um diese Informationen zu bekommen, nicht als Wahrheiten, aber als alternative Möglichkeiten der Einschätzung von sozialen Lagen. Der Preis des Studiums in sozialwissenschaftlichen Fächern ist genau der, Reflexions- und Distanzgewinne zu erhalten, die Naivität ausschließen.“ (S. 116). Erkenntnisgewinn lädt auch immer dazu ein, die eigenen Freiheitsspielräume zu erkennen und zu nutzen.