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Rezension zu Derin/Singelnstein: Die Polizei

Das Buch

Derin, Benjamin / Singelnstein, Tobias (2022): Die Polizei – Helfer, Gegner, Staatsgewalt. Inspektion einer mächtigen Organisation. Econ, (Berlin). 438 Seiten. ISBN 978-3-430-21059-1. D: 24,99. Hier geht es zum Buch.

Thema

Das Buch Die Polizei – Helfer, Gegner, Staatsgewalt. Inspektion einer mächtigen Organisation von Benjamin Derin und Tobias Singelnstein bietet eine umfassende Analyse der deutschen Polizei(en) als ambivalente Organisation(en). Es beleuchtet die strukturellen, gesellschaftlichen und rechtlichen Aspekte der Polizeiarbeit und setzt sich mit zentralen Problemen wie Gewalt, Rassismus, Rechtsextremismus und mangelnder Fehlerkultur auseinander. Das Buch fordert eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Frage, welche Polizei eine demokratische Gesellschaft braucht, und liefert Perspektiven für Reformen und alternative Modelle, wie etwa restorative und transformative Gerechtigkeit. Das Werk stellt damit einen Beitrag zur wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion über die Zukunft der Polizei dar.

Autoren

Benjamin Derin ist Strafverteidiger in Berlin und hat zuvor als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum gearbeitet. Tobias Singelnstein ist Professor für Kriminologie und Polizeiforschung an der Universität Bochum und gilt als einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Polizeiwissenschaft in Deutschland. Beide Autoren bringen langjährige Erfahrung in der Analyse polizeilicher Strukturen und Praktiken mit, was sich in ihrer differenzierten und kritischen Betrachtung widerspiegelt. Ihre interdisziplinäre Herangehensweise verbindet juristische, soziologische und kriminologische Perspektiven, wodurch sie ein umfassendes Bild der Institution Polizei zeichnen.

Entstehungshintergrund

Das Buch entstand vor dem Hintergrund intensiver gesellschaftlicher Debatten über Polizeigewalt, Rassismus und rechtsextreme Strukturen innerhalb der Polizei, die in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung gerückt sind. Ereignisse wie die Auflösung des SEK Frankfurt nach der Entdeckung rechtsextremer Chatgruppen, der Mord an George Floyd und die darauffolgenden Black-Lives-Matter-Proteste sowie wiederholte Berichte über Polizeigewalt in Deutschland bilden den aktuellen Kontext, in dem die Autoren ihr Werk verorten. Die zunehmende öffentliche Aufmerksamkeit für strukturelle Probleme der Polizei und die Forderungen nach Reformen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene haben die Relevanz der Thematik deutlich erhöht.

Aufbau und Inhalt

Das Buch Die Polizei – Helfer, Gegner, Staatsgewalt ist in fünf umfangreiche Kapitel unterteilt, die systematisch verschiedene Aspekte der Institution Polizei analysieren. Mit einer Mischung aus empirischen Daten, Fallstudien und theoretischen Überlegungen bietet es eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Polizei in Deutschland.

Das erste Kapitel, "Die Polizei in der Gesellschaft", legt den Fokus auf die Funktion und Rolle der Polizei im gesellschaftlichen Kontext. Es behandelt zunächst die grundlegenden Aufgaben der Polizei, wie die Gefahrenabwehr, Strafverfolgung und Hilfeleistungen im Alltag. Ein historischer Überblick zeigt die Entwicklung der Polizei von ihren Anfängen bis zur modernen Organisation. Im weiteren Verlauf wird die Polizei als Instrument sozialer Ordnung analysiert, wobei die Definitionsmacht der Polizei über Recht und Ordnung sowie ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft beleuchtet werden. Abschließend wird das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei untersucht, wobei die Autoren auf systematische Ungleichheiten und selektive Praktiken hinweisen, die diese Beziehung belasten.

Im zweiten Kapitel, "Die Polizei als Organisation", wird die innere Struktur der Polizei detailliert beschrieben. Dazu gehören die Hierarchien, Laufbahnen und Rechte der Polizist:innen sowie die Herausforderungen bei der Rekrutierung und Ausbildung neuer Kräfte. Besondere Aufmerksamkeit gilt der sogenannten "Cop Culture", einer spezifischen Polizeikultur, die durch Solidarät und Korpsgeist geprägt ist, gleichzeitig aber auch eine Abschottung gegenüber Kritik und eine Resistenz gegen Veränderungen fördert. Diese kulturellen Dynamiken werden in Bezug auf ihre Auswirkungen auf die Arbeitsweise und die interne Fehlerkultur kritisch beleuchtet.

Das dritte Kapitel, "Polizeiprobleme", widmet sich den zentralen Herausforderungen und Konfliktfeldern der Polizeiarbeit. Themen wie Polizeigewalt, Rassismus und Rechtsextremismus werden sowohl in ihrer Erscheinungsform als auch in ihren gesellschaftlichen und institutionellen Ursachen untersucht. Die Autoren zeigen auf, wie diese Probleme durch strukturelle Bedingungen und kulturelle Praktiken innerhalb der Polizei verstärkt werden. Ein besonderer Fokus liegt auf der mangelnden Fehlerkultur und den Defiziten in der Kontrolle polizeilichen Handelns. Hier plädieren die Autoren für unabhängige Kontrollmechanismen, die Transparenz und Verantwortlichkeit fördern sollen.

Im vierten Kapitel, "Polizei im Wandel", analysieren die Autoren die Veränderungen in der Polizeiarbeit angesichts neuer gesellschaftlicher Herausforderungen. Dazu gehören die Erweiterung polizeilicher Aufgaben durch veränderte Sicherheitsbedürfnisse, der Einfluss der Polizeigewerkschaften auf politische Entscheidungen sowie die Gefahr einer Verselbstständigung der Polizei von demokratischen Kontrollmechanismen. Die Autoren argumentieren, dass diese Entwicklungen die demokratische Einbettung der Polizei gefährden könnten und fordern eine klare Einhegung polizeilicher Befugnisse.

Das fünfte Kapitel, "Perspektiven", bietet Ansätze für eine Reform und Neuausrichtung der Polizei. Es wird die Ambivalenz der Organisation hervorgehoben, die sowohl als Garant von Sicherheit als auch als Verstärker sozialer Ungleichheiten agiert. Die Autoren diskutieren alternative Konzepte wie "Restorative Justice" und "Transformative Justice" und schlagen eine Demokratisierung der Polizei vor. Konkrete Vorschläge wie die Entkriminalisierung bestimmter Bereiche und eine Stärkung sozialer Institutionen werden als Möglichkeiten aufgezeigt, die Polizei zu entlasten und gleichzeitig ihre Effektivität zu steigern.

Insgesamt bietet das Buch eine umfassende und vielschichtige Analyse der Polizei als Organisation und ihrer gesellschaftlichen Rolle. Die Autoren verbinden theoretische Reflexionen mit praktischen Empfehlungen und liefern damit einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Diskussion über die Zukunft der Polizei in Deutschland.

Diskussion

Das Buch Die Polizei – Helfer, Gegner, Staatsgewalt. Inspektion einer mächtigen Organisation von Derin und Singelnstein sollte als ein bedeutender und differenzierter Beitrag zur Analyse der Polizei in Deutschland gewürdigt werden. Dabei treten die Ambivalenzen der Institution Polizei als zentrale Thematik hervor. Die Autoren vermeiden einseitige Polemik und beleuchten die Polizei sowohl als eine demokratische Institution mit bürgernahen Aufgaben als auch als Akteur, der gesellschaftliche Machtverhältnisse und Ungleichheiten reproduziert. Diese Ambivalenz gilt es als notwendiger Schlüssel zur Reform und Verbesserung der Polizei besonders hervorzuheben.

Die thematische Breite und die detaillierte Analyse, mit der die Autoren sowohl die strukturellen Probleme der Polizei als auch ihre organisatorischen Eigenheiten und die damit verbundenen gesellschaftlichen Auswirkungen darstellen gefällt besonders. Themen wie Polizeigewalt, Rassismus, Diskriminierung und die fehlende Fehlerkultur werden kritisch und fundiert diskutiert. Die Autoren ordnen diese Missstände juristisch und gesellschaftlich ein und betonen, dass die Probleme nicht auf individuelle Fehlleistungen reduziert werden können, sondern strukturelle Ursachen haben. In Abgrenzung von Polizeikultur verdeutlicht die Beschreibung der "Cop Culture" – geprägt von Korpsgeist, Loyalität und einer oft problematischen Abschottung nach außen – diese Perspektive (vgl. S. 124 ff.).

Kritisch soll angemerkt sein, dass das Buch häufig eher deskriptiv bleibt und eine theoretische Tiefe teilweise vermissen lässt. Zwar bieten die Autoren zahlreiche empirische Beispiele und schildern anschaulich die Facetten der Polizeiarbeit, doch fehlt es an einem stringenten theoretischen Rahmen, der die Institution Polizei schärfer einordnen könnte. Aber letzen Endes ist dies kann Fachbuch, sondern ein Sachbuch und richtet sich somit an ein breiteres Publikum, was begrüßenswert ist.

Die abschließenden Perspektiven im Buch – etwa die Diskussion um Demokratisierung, Defund- und Abolish-Ansätze sowie die Idee einer neuen Architektur von Sicherheit – müssen als wertvolle Impulse gewürdigt werden, auch wenn die Umsetzung solcher Konzepte in der Praxis als herausfordernd oder utopisch beschrieben wird. Die Forderung nach mehr Transparenz und externer Kontrolle der Polizei, etwa durch unabhängige Beschwerdestellen, sowie die Betonung der gesellschaftlichen Verantwortung für die Gestaltung der Polizei bewerte ich als weitere, zentrale Beiträge zu einem dringend notwendigen Reformdiskurs (vgl. S. 323 ff.).

Das Buch stellt einen unverzichtbaren Beitrag zur Polizeiforschung dar. Es sensibilisiert für die Ambivalenzen und Herausforderungen der Polizei und bietet sowohl kritische Einblicke als auch praxisorientierte Impulse, ohne in Pauschalurteile oder einseitige Kritik zu verfallen. Damit gelingt es den Autoren, eine fundierte Grundlage für eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Institution Polizei zu schaffen.

Fazit

Benjamin Derin und Tobias Singelnstein haben mit Die Polizei – Helfer, Gegner, Staatsgewalt ein Werk geschaffen, das die deutsche Polizei differenziert und kritisch beleuchtet. Die Autoren zeigen eindrücklich, wie sehr die Polizei zwischen demokratischem Anspruch und der Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheiten steht. Zentrale Themen wie Rassismus, rechtsextreme Tendenzen und die fehlende Fehlerkultur werden fundiert analysiert und mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpft. Besonders die Darstellung der "Cop Culture" und die Forderung nach mehr Transparenz und externer Kontrolle unterstreichen die Dringlichkeit von Reformen.

Das Buch bietet zudem wertvolle Impulse für eine Neuorientierung der Polizei, etwa durch Ansätze wie Restorative Justice oder die Demokratisierung polizeilichen Handelns. Auch wenn die Umsetzbarkeit dieser Vorschläge teilweise als utopisch erscheint, liefert das Werk eine wichtige Grundlage für den Diskurs über die Zukunft der Polizei. Kritisch anzumerken ist, dass das Buch in Teilen deskriptiv bleibt und eine stringente theoretische Rahmung stärker hätte herausgearbeitet werden können.

Insgesamt ist das Buch aber ein unverzichtbarer Beitrag zur Debatte über die Rolle der Polizei in einer demokratischen Gesellschaft. Es sensibilisiert für die Ambivalenzen und Herausforderungen der Institution und gibt sowohl wissenschaftlichen als auch gesellschaftlichen Diskursen neue Impulse.

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